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Zum Thema Prokrastination

Prokrastination oder “Aufschieberitis” ist ein vielschichtiges Phänomen, das erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit wissenschaftlich untersucht wird. Hier ein paar zusammengetragene Hintergrundinformationen, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben:

Begriff

Im Sprachgebrauch gibt es viele Formulierungen für das Phänomen des Aufschiebens: Aufschieberei, Aufschiebeverhalten, Hinausschieben, Verzögern, etwas vor sich her schieben, etwas auf Eis legen und viele mehr. Ein altes Wort, das nicht mehr so häufig verwendet wird, ist „Saumseligkeit“. Dieser Begriff ist vom Verb „säumen“ abgeleitet, und bedeutet, dass man aus Trägheit oder Nachlässigkeit die Ausführung einer Sache hinauszögert oder sich sehr viel Zeit mit der Ausführung lässt (vgl. Klein, 2007). Besonders in der Ratgeberliteratur wird auch der Begriff „Aufschieberitis“ häufig verwendet oder der so genannte „Innere Schweinehund“ bemüht, der Menschen daran hindert, das zu tun, was sie eigentlich tun sollten oder was sie sich vorgenommen haben. Des Weiteren findet das Wort „Mañana“ (span.: morgen) in verschiedenen Zusammensetzungen wie z.B. „Mañana-Typen“ oder „Mañana-Test“ (Stollreiter, 2006) Verwendung, sowie das „Last-Minute-Syndrom“ (Cornelissen, 2006).

Über den Ursprung der Formulierung „Etwas auf die lange Bank schieben“ gibt es verschiedene Angaben: Eine Version ist, dass früher in den Sälen der Ratsherren oder Fürsten kurze Bänke in der Mitte des Raumes aufgestellt waren und sich an der Seite eine lange Bank befand. Diejenigen Herren, die sich bei Versammlungen über irgendetwas nicht einig wurden, mussten sich auf die lange Bank setzten und hatten nach Beendigung der Versammlung solange zu bleiben, bis sie ihre Differenzen ausdiskutiert hatten (zitiert nach Hauser, Merten & Brunhuemer, 2003). Eine andere Variante besagt, dass diese Redensart aus den früheren Gerichtsstuben entlehnt ist. wo man anstatt der Aktenschränke eine lange Bank hatte, um die Akten und Klagen auf derselben zu verwahren (zitiert nach Goebel).

Der Fachausdruck, der in der Forschung verwendet wird, ist „Prokrastination“. Er kommt aus dem Lateinischen von „procrastinatio“, was Vertagung und Aufschub bedeutet, sowie „procrastino“, d.h. auf morgen verschieben, vertagen, aufschieben. Das Wort setzt sich zusammen aus „pro“ (lat.: für) und „cras“ (lat.: morgen) (Pertsch 1980). Ursprünglich wurde darunter ein positiv bewertetes und kluges Verschieben besonders von militärischen Aktionen verstanden; man bezog sich dabei auf die damit verbundene Geduld und Ausdauer. Erst mit dem Beginn der industriellen Revolution Mitte des 18. Jahrhunderts erhielt der Begriff seine negative Bewertung als dysfunktionales Verschieben im Sinne von Vermeidungsverhalten und Unpünktlichkeit (vgl. Patzelt, 2004 und Steel, 2007). In der englischen Sprache ist „procrastinate“ ein bekannter und alltäglich verwendeter Begriff, der auf Deutsch „zaudern, zögern oder auch hinausziehen, verschleppen“ (Messinger, 1997) bedeutet.

Geschichte

Beim Aufschieben scheint es sich um eine „archetypische menschliche Schwäche“ zu handeln (Steel, 2007). Berichte über Prokrastination tauchen schon in den frühesten menschlichen Schriften von vor 3.000 Jahren auf: Bereits in landwirtschaftlichen Anleitungen aus dieser Zeit wird das Aufschieben als grundlegendes Problem beschrieben (vgl. Reinhardt, 2008). Auch in frühen römischen und griechischen Militärschriften und alten religiösen Texten wird darüber berichtet (vgl. Steel, 2007). Etwa 800 v. Chr. warnte Hesiod, einer der ältesten überlieferten griechischen Dichter, ein Mann, der seine Arbeit verschiebe, stehe immer mit einem Bein im Ruin (zitiert nach Steel, 2007). Der Gelehrte Thukydides, ein General aus Athen und Autor vieler Schriften über den Krieg gegen Spartakus, schrieb um 400 v. Chr., dass Prokrastination die kritisierbarste aller Charaktereigenschaften sei – die nur tauge, schiebe man eine Kriegserklärung auf, um weitere Vorbereitungen zu ermöglichen, die zu einem schnelleren Ende desselben führten (ebd.). 44 v. Chr. sprach Cicero, ein bekannter römischer Konsul, in einer Rede davon, dass bei der Durchführung fast jeder Angelegenheit Langsamkeit und Prokrastination abscheulich seien (ebd.). Auch aus Schriften der östlichen Kulturen ist der schlechte Ruf des Aufschiebens überliefert. So wird in der „Bhagavad Gita“, dem um 500 v. Chr. geschriebenen und vermutlich am weitesten verbreiteten spirituellen Text des Hinduismus, Menschen, die aufschieben, in Aussicht gestellt, dass ihnen die Wiedergeburt verwehrt werde und sie eher zur Hölle fahren würden (ebd.).

Verbreitung

Steel (2007) trägt in einer großen Meta-Analyse die Daten aus 216 Einzelarbeiten zusammen, die zwischen 1982 und 2005 erschienen sind. Er ermittelt dabei folgende Prozentwerte: Schätzungen zufolge prokrastinierten 80 – 90 % der College-Studenten, ca. 75 % würden sich selbst als Aufschieber sehen, bei 50 % habe das Aufschieben stetigen und problematischen Charakter. Ihren eigenen Berichten zufolge verbrächten die Studierenden mehr als ein Drittel ihres Tages mit Schlafen, Spielen oder Fernsehen. Darüber hinaus sei Prokrastination auch in der Gesamtbevölkerung weit verbreitet; 15 % bis 20 % der Erwachsenen seien betroffen. Steels Ergebnissen zufolge schieben Männer etwas öfter auf als Frauen, und Aufschieben insgesamt wird mit zunehmenden Jahren seltener – im Seniorenalter sei das Phänomen nahezu unbekannt.

Laut Hans-Werner Rückert (2003), Leiter der Zentraleinrichtung Studienberatung und Psychologische Beratung der Freien Universität Berlin und Autor zahlreicher Veröffentlichungen zum Thema Aufschieben, gäben bei Umfragen in den USA 40 % aller Befragten an, dass ihnen wegen ihres Aufschiebens schon einmal Nachteile entstanden seien, 25 % litten unter wiederkehrendem Aufschieben, dem sie hilflos gegenüberstünden. Bei Studierenden schätze man, dass 70 % aufschöben, unter denen ebenfalls 25 % „chronische harte Aufschieber“ seien (S. 13). „Hartes Aufschieben“ nennt er das gewohnheitsmäßige und scheinbar unnötige Aufschieben von Aufgaben, welche die Personen „selbst als wichtige, vorrangige oder termingebundene Aktivitäten einstufen“ (ebd., S. 22).

Eine groß angelegte Studie, in deren Rahmen in den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Spanien, Venezuela, Peru und Australien insgesamt 582 Männer und 765 Frauen untersucht wurden, ergab einen Anteil von rund 20 % chronischen Aufschiebern in der Bevölkerung, unabhängig von Nationalität. „Diese Ergebnisse legen nahe, dass die Tendenz zu häufigem Verzug beim Beginnen oder Fertigstellen von Aufgaben über verschiedene Populationen die gleiche Prävalenz hat, unabhängig von ihren verschiedenen Werten, Normen und Praktiken.“ (Ferrari et al., 2007, Übersetzung a. d. Engl. durch d. Verf.).

In einer Untersuchung an der westfälischen Wilhelms-Universität Münster fanden die Forscher zwischen 10 % und 20 % Betroffene (Rist et al., 2006). Auch kleinere Statistiken belegen eine weite Verbreitung: Bis zum 31. Mai 2005 hatten gerade mal 22 % der Hamburger Gewerbetreibenden und Selbständigen ihre fällige Einkommensteuererklärung abgegeben, bis 30. September (mit Steuerberater) nur 44 % (Neudecker, 2006, S. 31).

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